Ich sitze schon den halben Tag da, tippe ein paar Worte, denke nach, lösche sie wieder, gehe zwischendurch mit Matheo und Marco spazieren, tippe erneut und lösche und suche verzweifelt nach dem Stoppknopf für mein Kopfkarussell.
Immer noch kann ich kaum glauben, dass das alles wirklich passiert ist. Dass es aller Voraussicht nach wieder passieren wird.
Dabei war doch alles gut am letzten Freitagabend.
Wir hatten mit Matheo seine Lieblingssendung „The Voice“ geschaut, davor ein bisschen Mau Mau gespielt, Popcorn gefuttert und zur Musik aus dem Fernseher getanzt. EBEN noch war alles schön…
Und im nächsten Moment sehen mein Mann und ich in den Nachrichten diese schrecklichen Bilder, hörten von einem Anschlag in Frankreich in der Nähe des Stadions und vielen weiteren Orten mitten in der Stadt der Liebe. Und auf einmal ist alles ganz nah an einem dran. Ja, es könnte auch Deutschland sein.
Ich wollte auf keinen Fall, dass unser Sohn etwas davon mitkriegt, weshalb ich Matheo sofort auf den Arm nahm und hoch in sein Zimmer brachte, wo er noch ein wenig Lego spielen durfte. Instinktiv schaltete ich auf den Mama-Normalmodus, scherzte mit ihm, lief singend die Treppe hoch, machte einfach alles wie immer. Wenigstens er soll so lange wie möglich das Gefühl haben, dass die Welt da draussen ihm nichts anhaben kann.
Als ich wieder unten war, fiel mir ein, oh Gott, im Stadion sitzt ein Freund. Marco hatte ihm bereits eine SMS geschrieben und wir waren total erleichtert ein paar Minuten später zu hören, dass alles in Ordnung war. Ich selbst schrieb einer Freundin in New York über FB, dass ich an sie denke, weil ich wusste, dass sie Familie in Paris hat. Auch bei Ihr war Gott sei Dank nichts passiert.
Wie in Trance verbrachten Marco und ich die halbe Nacht vor den News-Sendern, immer in der Hoffnung, etwas zu hören, dass einen verstehen lässt, warum so etwas geschieht.
Warum gibt es Menschen, denen es nichts ausmacht, die Töchter, Söhne, Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Nichten, Neffen, Freundinnen und Freunde anderer Menschen niederzumetzeln?
Einfach so. Ohne einen Funken Mitleid.
In welcher schrecklichen Dunkelheit muss so ein Mensch aufwachsen, wie grausam muss das Leben zu ihm gewesen sein, damit seine größte Erfüllung, sein innigster Wunsch der Tod ist. Der Tod von anderen und letztlich der eigene.
Welche Kindheit hatte jemand, dem es die höchste Freude bereitet, andere zu quälen, zu ermorden?
Lag die Mutter von so jemandem auch mit ihm stundenlang auf der Couch und hat aus Büchern vorgelesen? Vorm Zubettgehen mit ihm gekuschelt, ihm gesagt, wie sehr sie ihn liebt?
Weiß so jemand, was ein Kindergeburtstag ist? Was es heißt, behütet und beschützt zu sein?
Was Liebe ist? Was Glück?
Tausend Frage schwirren in meinem Kopf, bestimmt machen viele davon nicht einmal wirklich Sinn.
So einiges macht keinen Sinn.
Wenn ich meinen Sohn ansehe, dann ist da so viel Lebenslust, so viel Freude und Güte in diesen Kinderaugen. Die Liebe platzt förmlich aus ihm heraus.
Ich frage mich, was müsste passieren, um aus diesem wundervollen Menschen eine solche Bestie zu machen.
Sind es die falschen Freunde, der Zufall oder ist es tatsächlich so, dass man als Eltern so versagen kann?
Alles, was mein Mann und ich tun können und täglich tun, ist unseren Kindern ein echtes Heim zu bieten, eines, in das sie immer kommen können, vor allem immer zurückkommen können, egal, was ist oder war. Unsere Tür steht immer offen, unsere Ohren ebenfalls und gemeinsam schaffen wir es. Dass wissen unsere Kinder und ich hoffe so sehr, dass dieses Wissen, sie zu starken Menschen macht, die Recht von Unrecht unterscheiden können!
Ich habe keine Ahnung, wohin das alles führt, ob wir tatsächlich gerade nur ernten, was wir gesät haben? Ob der Terror noch aufzuhalten ist, oder wir schon längst mittendrin sind?
Das schlechteste ist aber bestimmt gar nichts zu tun.
Helfen kann jeder. Überall. An jedem Tag. Es gibt sehr viele Möglichkeiten jeden Tag etwas Gutes in seinem eigenen Umfeld zu tun, für eine Freund, die ältere Nachbarin, die Frau von Gegenüber.
Als Kind war es für mich selbstverständlich, dass ich ab und zu mal für eine Nachbarin einkaufen gegangen bin. Gerne sogar. Ich fühlte mich geehrt, gebraucht und gewürdigt. Wenn wir das unseren Kindern von klein auf beibringen, vielleicht reifen sie dann zu verantwortungsvollen und mitfühlenden Erwachsenen heran?
Wenn überhaupt alle Menschen versuchen würden, jeden Tag etwas Gutes zu tun, hätten sie weniger Zeit, etwas Schlechtes zu tun. Es müsste auch niemandem langweilig sein, es gibt genug zu tun.
Vor allem, wenn wir nicht wollen, dass unsere Kinder in einer Welt groß werden, die dunkel, kalt und ohne Liebe ist.
Und dazu gehört aus meiner Sicht auch, sich zu informieren.
Damit man sich eine eigene Meinung bilden kann und man nicht eventuell ungewollt zum Spielball irgendeiner Gruppierung wird. Wir hatten schon einmal eine Situation, die ausser Kontrolle geriet, weil die Menschen blindlings einer Ideologie gefolgt sind, die eigentlich für alle ersichtlich nicht richtig gewesen sein konnte. Ich kenne all dies nur aus den Geschichtsbüchern. Bislang.
Wir sind bisher eine sehr privilegierte Generation. Wir haben keine Kriege im eigenen Land erlebt und die, über die tagtäglich in den Medien berichtet werden, „ja, Mensch, die sind so weit weg, da muss man ja nur nicht hinzufliegen und schon hat man damit nichts zu tun.“
Solche und ähnliche Sätze bekomme ich teilweise von Personen zu hören, die ich eigentlich mag, die ich schon lange kenne, aber mich dann in diesem Moment frage, warum.
So viele von uns sind kein bisschen dankbar, über das, was sie haben, haben den Realitätssinn verloren, die Bodenhaftung. Wir haben alles, von Luxus bis Nahrung und davon so im Überfluss, dass wir Tonnen von Essen jedes Jahr in den Müll schmeißen, während anderswo Kinder Dreck essen.
Ist das nicht absurd?
Natürlich haben wir auch hier in Deutschland unsere Kämpfe zu kämpfen, aber Krieg und Not- seien wir ehrlich – kennen wir nicht.
Doch was wäre wenn?
Angenommen, wir wären heute vom Spaziergang zurück nach Hause gekommen und da ist kein Zuhause mehr. Stattdessen Feuer, Rauch, Tote, Scherben, Blut. Dasselbe Bild bei unseren Eltern, unseren Schwiegereltern, bei allen, die wir kennen.
Was machen wir? Wem können wir uns anvertrauen? Wohin können wir flüchten? Was nehmen wir mit? Was besitzen wir überhaupt noch und was davon können wir überhaupt tragen? Wie erkläre ich meinem Kind, dass jetzt Krieg ist?
Matheo weiß so ein bisschen, was Krieg ist, seit er seine Oma gefragt hat, warum sie keinen Papa hat. Doch Krieg ist für ihn etwas Unwirkliches. Etwas, das er nicht wirklich greifen kann, geschweige denn begreifen. Gott sei Dank.
Ich bin in Gedanken ganz fest bei all den Menschen, die in Paris ihr Leben lassen mussten und bei all denen, die jetzt um sie trauern!
Aber ich bin auch bei den Menschen, die diesen Krieg jeden Tag vor der Haustüre haben!
Ich bin wütend, traurig, fassungslos.
„Haltet die Welt an!
Bei Gott es fehlt ein Stück,
haltet die Welt an.
Es fehlt ein Stück,
sie soll stehen.
Und die Welt dreht sich weiter
und daß sie sich weiter dreht
ist für mich nicht zu begreifen,
merkt sie nicht,
daß einer fehlt?
haltet die Welt an,
es fehlt ein Stück.
haltet die Welt an,
sie soll stehen.“
(Glashaus, „Haltet die Welt an“)
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