Stellt Euch folgende Situation vor: ihr kommt beladen mit einem Tablett voller Kekse und Kakao ins Zimmer eures Sohnes, um dem lieben Kind einen kleinen Nachmittagssnack zu kredenzen, aber das hat nichts Besseres zu tun als euch von hinten heimlich anzuspringen, so dass ihr vor lauter Schreck alles fallen lasst.

So geschehen bei uns gestern Nachmittag. Ich habe wahrlich versucht darüber zu lachen, was mir aber etwas schwer fiel, denn das Ganze geht jetzt schon eine Weile so.

Wo ich gehe, stehe oder sitze, buuuht und huiiiiit und  bääääht es seit geraumer Zeit irgendwann aus dem Nichts plötzlich superlaut an meinem Ohr. Am liebsten würde ich in diesen Momenten aus der Haut fahren und laut brüllen, denn ich erschrecke wirklich. Und zwar zu Tode! Mindestens fünf Mal am Tag geht das so seit acht Wochen und ich finde es ehrlich anstrengend.

Die Alternative zum lauten Schreien, sagte mir der Arzt, sei ein gepflegtes Ignorieren der Gesamtsituation und wohl das einzig Wahre in derselbigen, denn das, was mein Sohn hat, ist ein Tick. Ich bemühe mich daher redlich um Fassung, denn der Arme kann ja nix dafür, aber leicht fällt mir das nicht.

„Es geht vorbei“ murmle ich daher in solchen Situationen mantramäßig und stoisch vor mich hin, wenn es mal wieder akut wird. Und bislang tat es das auch immer! Es ging tatsächlich vorbei. Ich spreche aus Erfahrung.

Der erste Tick suchte uns heim da war Matheo vier Jahre alt und ich längst nicht so entspannt wie heute.

Es kam ganz plötzlich über Nacht. Auf einmal räusperte er sich bei jedem zweiten Satz. Über viele viele Wochen. Immer so ein bisschen als hätte er einen Frosch im Hals. „Hm hm“ machte er ANDAUERND. Zuerst dachte ich mir nichts. Eine Erkältung vielleicht oder wirklich ein Frosch im Hals.

So nach einer Weile aber fing das Gedankenkarusell an seine Runden zu drehen, bis ich am Ende meiner Überlegungen schon bei einem Tumor im Kehlkopf angelangt war. Völlig unbegründet wie sich herausstellte. Gott sei Dank.

Diagnose: TICK. Natürlich fragte ich den Arzt sofort, ob sowas wieder weg geht.

Er erklärte mir, dass Ticks bei Kindern tatsächlich nichts Ungewöhnliches sind. Jedes achte bis zehnte Kind kämpft damit. Jungs trifft es dreimal öfter als Mädchen und in 70% aller Fälle verschwinden sie zeitnah von alleine – spätestens aber nach der Pubertät. Erst dann, wenn ein Tick länger als zwölf Monate andauert, spricht man von einem chronischen Leiden!

Wir lagen bis jetzt immer deutlich darunter! Matheos Ticks sind zwar wirklich vielfältig in ihrer Ausprägung, dauern bislang in der Regel  aber niemals länger als sechs bis sieben Monate. Damit liegen wir noch in einem guten  Rahmen und je öfter ich damit konfrontiert werde desto gelassener kann ich inzwischen sein.

So beunruhigte mich das ständige Augenzwinkern mit fünf nicht mehr so wie das Räuspern ein Jahr zuvor. Danach kam das Nase hochziehen. Da war er sechs. Es wurde zu Dauermanie. Es half nichts. Kein Naseputzen, kein Nasenspray, keine Nasenspülung. Auch als er kurze Zeit später ständig mit der Zunge permanent seine Lippen leckte, sagten wir nichts.

Unsere Devise war: Abwarten! Und ganz wichtig: das Kind nicht unter Druck setzen.

Eltern müssen sich klar darüber sein, dass Kinder in der Regel wirklich keinerlei Kontrolle darüber haben, ob sie bellen oder juchzen oder sonstige Laute von sich geben, auch nicht, wenn sie zucken oder ständig auf -und abhüpfen MÜSSEN so wie unser Sohn mit sieben. Es macht keinen Sinn die Kleinen zu ermahnen. Stattdessen sollten Eltern dem Kind das Gefühl vermitteln, dass es trotzdem und ohne Einschränkung geliebt wird!

So richtig schlimm wird eine derartige „Störung“ natürlich in der Schule. Andere Kinder sind leider meist nicht so rücksichtsvoll wie Familienmitglieder. In so einem Fall rate ich mit der Klassenlehrerin/dem Klassenlehrer ein ehrliches Gespräch zu führen, damit sie oder er im Notfall eingreifen kann, wenn Mitschüler das eigene Kind zu hänseln beginnen. Ein guter Pädagoge weiß wie er das vermitteln oder unterbinden kann. Zumindest sollte er das!

Leider ist die genaue Ursache bisher nicht geklärt.

Experten gehen jedoch davon aus, dass eine Erkrankung des Gehirns als Auslöser sein kann. „Bei einer Tick-Störung fehlt wahrscheinlich die optimale Abstimmung zwischen verschiedenen Hirnarealen, die Bewegungswunsch und -ausführung koordinieren“, sagt Helge Topka, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie am Münchner Klinikum Bogenhausen. Forscher vermuten, dass die Nervenbahnen zwischen diesen Hirnregionen nicht in gleicher Geschwindigkeit reifen und so ein Ungleichgewicht bei der Bewegungssteuerung entsteht. „Dadurch kommt es zu ungewollten Handlungen, die nur geringfügig steuerbar sind“, erklärt Topka. Das können Laute, Wörter oder Räuspern sein, hastige Arm- oder Kopfbewegungen, Blinzeln.“ Reifen die beteiligten Bahnsysteme nach, verschwinden auch die Tics wieder“, so der Neurologe, „die Prognose bei einfachen Tics ist gut.“ (Quelle: spiegel.de)

Auch genetische Gründe können vorliegen. Oft liegen Ticks in der Familie. Wie bei uns. Einer meiner Ticks besteht zum Beispiel darin, dass ich grundsätzlich immer an einem Gericht oder einem Nahrungsmittel rieche bevor ich es esse. Das ist nie böse gemeint, ich kann nur einfach nicht anders.

Sollte der Tick doch schwerwiegender sein, dann bitte nicht verzagen. Es gibt verschiedene Therapiemöglichkeiten, die miteinander kombiniert werden können. Ob Entspannungstechniken oder komplexe Verhaltenstherapien und notfalls kann auch auf eine medikamentöse Behandlung zurückgegriffen werden. Bitte sprecht mit einem Arzt eures Vertrauens darüber!

Auch beim InteressenVerband Tic&Tourette Syndrom e.V. findet ihr Hilfe und mehr Information!

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PS: Und solltet Ihr persönliche Fragen an mich haben, bitte jederzeit melden!